Oliver Kahn: Wie Menschen ermüden und sich erschöpfen
Da wir nun mal keine „Herkulesse“ sind, werden wir mit dieser Einstellung an einen Punkt kommen, an dem wir dem permanenten Anforderungsdruck nicht mehr gewachsen sind. Wir werden uns überfordern. Wer so denkt, wird allerdings auch die Warnsignale überhören, die Körper und Geist vorsichtshalber eingerichtet haben. Es ist ein Kreislauf, verhängnisvoll wie bei Sisyphos, denn wer so denkt, hat es ja gerade gelernt, sich zu überwinden, also die Sicherheitsvorkehrungen und Warnschüsse zu ignorieren.
Ermüdung und Erschöpfung werden in Kauf genommen, es wird schon wieder irgendwann eine Möglichkeit zur Erholung geben. Die Erholungsphasen, wenn sie denn kommen, führen aber immer weniger zu wirklicher Regeneration, sie werden als viel kurz empfunden. Man beginnt zu verlernen, wie es geht, einmal wirklich abzuschalten und neue Energien zu tanken.
Der gesamte Fokus verlagert sich auf den Beruf, alle anderen Bereiche des Lebens verlieren an Bedeutung. Der Erfolg steht im Mittelpunkt, die Arbeit ist zum wichtigsten Lebensinhalt geworden. Man brennt vor Ehrgeiz, wird angetrieben von immer neuen Zielen und Erfolgen, erhöht die Anstrengungen immer weiter. Man merkt nun gar nicht mehr, dass jeder weitere Erfolg kaum noch wirklich ein Gefühl der Zufriedenheit vermittelt, und beginnt, den Zugang zu seinen Mitmenschen zu verlieren. Und zu sich selbst. Erfolg wird zur Droge, man wird süchtig danach. Wie bei einer „echten“ Sucht isoliert man sich immer mehr von seiner Umwelt. Und alles dreht sich immer schneller, man ist gefangen im Hamsterrad.
Man hängt mittlerweile vollständig von seinem Beruf ab, jegliches Selbstwertgefühl ist darauf ausgerichtet. Wenn es nun zu Misserfolgen kommt, wird es kritisch. Es bleibt gar nichts anderes, als die Anstrengungen weiter zu erhöhen, obwohl Körper und Seele längst durchgehende Warnsignale senden. An- und Entspannungsphasen sind völlig aus dem Gleichgewicht geraten, man holt sie sich nicht, man gönnt sie sich nicht, man nimmt die Bedürfnisse von Körper und Seele ia kaum mehr wahr.
Erschöpfung und Müdigkeit werden zum Dauerzustand. Kopfschmerzen, Angst, Spannung, Reizbarkeit, Schuldgefühle werden zu ständigen Begleitern. Frustrationen, wenn der Erfolg ausbleibt. In der „letzten Phase“ beginnen einen Gefühle der Verzweiflung und Sinnlosigkeit heimzusuchen, und die Erschöpfung tritt schon bei kleinsten Anstrengungen ein. Nun beginnt der totale Rückzug. Jetzt allerspätestens gehört professionelle Hilfe her.
Aus: Kahn, Oliver: Ich. Erfolg kommt von innen. München, 2008