Es gibt Hoffnung…
..schließlich kann es nur besser werden angesichts der vielen Menschen, die an Erschöpfungsszuständen leiden.
Wir Menschen halten sehr viel auf unsere Fähigkeit, logisch zu denken und überlegt und also: vernünftig zu handeln. Und das aus gutem Grund. Denn dieser Vorteil hat uns im evolutionären Wettstreit zweifellos viel gebracht. Möglich gemacht hat diesen Erfolg die spezifische Entwicklung des menschlichen Gehirns. Seit jeher sorgt es mit bewundernswerter Höchstleistung tagtäglich und buchstäblich pausenlos dafür, dass wir unseren immer komplexer werdenden Alltag relativ mühelos bewältigen. Das Gehirn ist ein immens wichtiger Teil unseres Körpers, es ist DAS Zentralorgan. Wer wollte das ernsthaft bestreiten?
Umso erstaunlicher ist allerdings, dass sehr viele, vielleicht sogar die meisten Menschen schwer bis gar nicht akzeptieren können oder wollen, dass auch dieser so wichtige Teil unseres Körpers krank werden kann – und das auch tut: Innerhalb eines Jahres leiden mehr als ein Drittel der erwachsenen Frauen und ein Viertel der Männer wenigstens einmal unter einer so großen psychischen Störung, dass sie ärztlich behandelt werden sollte./1/ Es ist eine Tatsache: Erkrankungen des Gehirns, jede Form von psychischen Störungen also – und hier allen voran die Depression – sind ebenso verbreitete Wohlstandsleiden wie z.B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Rückenschmerzen oder Alkoholsucht.
Augen zu und durch
Dennoch nehmen wir speziell den gesundheitlichen Verstimmungen des Gehirns und der Seele eine besonders negierende und ablehnende Haltung ein. Eine Mehrheit von uns hält es für „Blaumacherei“, der Arbeit wegen psychischer Erkrankungen fern zu bleiben. Für uns und andere lehnen wir es explizit und vehement ab, den Arzt wegen eines Seelenleidens aufzusuchen geschweige denn sich krankschreiben zu lassen. Es ist uns unangenehm, peinlich. Und wir befürchten soziale und berufliche Nachteile./2/ Dies ist wohl auch einer der Gründe dafür, weshalb es durchschnittlich lange siebeneinhalb Jahre (!) dauert, bis sich Menschen mit psychischen Erkrankungen in ärztliche Behandlung begeben./3/
Das verwundert, wenn man die große Beanspruchung bedenkt und die Bedeutung, die wir dem Gehirn für unser (Alltags-) Leben und unsere Kultur gemeinhin und völlig zu Recht zuschreiben. Es verwundert auch, weil eine solche Haltung und das dazugehörige Verhalten für vernunftbegabte Wesen, wie wir es gefälligst sind, sehr unvernünftig sind. Denn es wirkt sich insgesamt sehr kontraproduktiv aus. Schließlich beeinträchtigen psychische Verstimmungen zumindest mittelfristig die Lebensqualität und Leistungsfähigkeit auf dumpfe und sehr negative Art./4/ In erster Linie leiden natürlich die Betroffenen selbst darunter, gleichzeitig aber auch die Allgemeinheit: Diagnostizierte psychische Störungen verursachen durchschnittliche (!) Ausfallzeiten von 30 bis 40 Tagen, die dann von anderen getragen und ausgeglichen werden./5/ Hinzu kommen das sinkende Leistungsniveau und die Ausfallzeiten vor der Diagnose, was sich beides freilich statistisch nicht erfassen lässt. Depression ist ansteckend – und zwar nicht erst, wenn sie ausgebrochen ist, sondern bereits schon in der Entstehung!
Wozu das Ganze?
Noch einen anderen Aspekt lohnt sich zu beleuchten: Öfter als uns bewusst ist oder wir wahrhaben wollen enden psychische Verstimmung auch tödlich. Besonders natürlich, wenn sie unerkannt, ignoriert oder unbehandelt bleiben. Dies ist vor allem deshalb tragisch, weil behandelte Depressionen eine fast hundertprozentige Heilungschance haben. Die existentielle und besonders schwer empfundene Dimension rührt daher, dass der Kern psychischer Erkrankungen in den meisten Fällen eine tiefe Sinnkrise ist. Völlig unvermittelt (zumindest gefühlt) meldet sich lautstark und vehement die Frage zu Wort: „Wozu das Ganze? Was ist der Sinn?“
Das sind natürlich tiefgreifende Fragen, die ans Eingemachte gehen und die die empfundene Schicksalhaftigkeit der Erkrankungen deutlich macht./6/ Doch wo kommt die Sinnfrage so plötzlich her? Haben wir in unserer überbordenden Wohlstandswelt nicht alles, was wir brauchen? Aus neurologischer (und philosophischer) Hinsicht ist es ein völlig normaler Vorgang. Denn die Sinnfrage ist DIE Frage aller Fragen für uns. Und auch für unser Gehirn. Unablässig befasst es sich mit der Frage nach dem Sinn und der Suche nach Bedeutung: Was ist der Sinn von jedem einzelnen Körpersignal und Sinneseindruck? Was bedeutet es? Was folgt daraus? Was ist zu tun, was zu unterlassen?
Überleben in der Gemeinschaft
Wenn wir aber wunschlos glücklich sein können, was fehlt uns denn dann? Woran kranken so viele? Antwort darauf könnte die evolutionäre Entwicklung des Menschen geben. Unser wirklich entscheidender Vorteil war hier nicht in erster Linie die Fähigkeiten zur Vernunft, also etwa logisches Denken oder Gedanken in Sprache zu übersetzen. Es war vielmehr die Fähigkeit, die Bedeutung unseres Tuns abzuschätzen, wenn man so will also: die Sinnfrage zu beantworten. Offenbar reifte beim Menschen dabei früh die Erkenntnis, dass für das Überleben des Einzelnen die Gruppe eine entscheidend wichtige Rolle spielt. Und so entwickelten Menschen schneller und ausgeprägter als andere Tiere die Fähigkeit zu koordiniertem kooperativem, sozialen Handeln und, besonders wichtig, zu Mitgefühl – im Gehirn u.a. durch die Spiegelneuronen repräsentiert.
Die Erfolgstrategie des Menschen und somit auch des menschlichen Gehirns für Überleben, Erfolg und Zufriedenheit heißt seit jeher einfühlsames gemeinschaftliches Handeln und eben nicht individuelle Übermacht, Egoismus oder Einzelgängertum, wie manche Interpretationen des „Survival of the Fittest“ oft missdeuten. The Fittest war und ist derjenige, der die Gemeinschaft für sich nutzbar machte und, weil es die „Diplomatie“ oder das „Geben und Nehmen“ erforderte, so zwansläufig auch der Gemeinschaft nutzte. Und hier schließt sich der Kreis: Alleine schon aus biologischem Grund heißen die Antworten auf der Suche nach Sinn und Bedeutung für Menschen und ihre Gehirne: Gemeinwohl und Zugehörigkeit.
Was bedeutet das nun angesichts der Tatsache, dass psychische Leiden ein epidemisches Ausmaß angenommen haben – immerhin sind sie der zweithäufigste Grund für Krankschreibungen und Frühverrentungen? Die Millionen von Betroffenen lassen jedenfalls vermuten, dass sehr vielen von uns in ihren jeweiligen privaten und beruflichen Umfeldern der Sinn verloren gegangen ist, wahrscheinlich deshalb, weil sie gemeinschaftliche Werte vermissen. Sicher ist, dass es sich um ein massives systemisches, gesellschaftliches Problem handelt, das wir gemeinschaftlich werden lösen müssen, indem wir diese Fragen beantworten: Wie wollen wir als Gesellschaft leben? Was wollen wir gemeinsam erreichen? Wie wollen wir Gesellschaft, Zusammenleben und Zusammenarbeit zukünftig gestalten? Welche Rolle und Spielräume hat jeder einzelne dabei?
Wie gesagt, wir dürfen getrost darauf hoffen, dass wir uns da ran machen. Wir können gar nicht anders. Menschen sind auf diese Fragen programmiert und spezialisiert. Genauer gesagt: Menschliche Gehirne. Und sicher auch unsere Herzen. In diesem Sinne: Alles Gute!
Dieser Artikel erschien zuerst auf www.teamworkblog.de.
Anmerkungen
/1/ DAK-Gesundheitsreport 2013, S. 54.
/2/ DAK-Gesundheitsreport 2013, S. 74 f.
/3/ Bandelow, Borwin: Das Angstbuch, Reinbek bei Hamburg: 2013.
/4/ World Health Organization: I Had A Black Dog, His Name Was Depression. (Youtube-Video)
/5/ DAK-Gesundheitsreport 2014, S. 18.
/6/ Darüber können sich sich freilich nur jene amüsieren, die noch nicht in einer solchen Krise gesteckt sind, oder jene, die das nicht zugeben können oder möchten. Das allein deutet die soziale Reichweite der Krankheit an: Aufgrund ihrer Tabuisierung haben psychische Störungen im Vergleich zu anderen körperlichen Gebrechen eine ganz andere, viel größere soziale Relevanz und Auswirkung auf das persönliche private und berufliche Umfeld des Betroffenen, was die Tabuisierung noch mehr vorantreiben dürfte. Ein Teufelskreis.