Oliver Kahn: Vom Reiten auf der Welle
Man reitet auf einer Welle. Man glaubt, von ihr getragen zu werden, man glaubt, von ihr angetrieben zu sein. Man glaubt fast, ein Perpetuum mobile zu sein – man glaubt, dass es weiter und weiter geht, ohne Energie zu kosten. Das ist das Gefühl auf dem Erfolgstrip. Es ist aber eine künstliche Welle, auf der man da reitet. Und das Fatale ist: Die Welle speist sich aus unseren eigenen Energiequellen. Ohne dass wir es merken, werden die Energiereserven immer kleiner.
Das ist meine „Theorie der künstlichen Welle“. Wenn die Woge des Erfolgs einmal abreißt, kann mehr passieren, als dass man ins Wasser fiele, wo man einfach auf die nächste Welle wartet. Der „Held“ kann viel tiefer abstürzen, nicht nur bis auf die Wasseroberfläche. Man fällt durch bis auf den Grund, wo man hart aufschlägt. Für jeden Menschen geht es nach einer extremen, intensiven Arbeitsphase darum, runterzukommen. Es geht darum, vorbereitet zu sein: auf die Leere, die sich einstellen kann, wenn einem bewusst wird, dass man am Ziel angekommen ist; auf das paradoxe Gefühl, trotz allem nicht gut genug gewesen zu sein; auf das ebenso paradoxe Gefühl, trotz allem nicht genug getan zu haben; auf das Gefühl, nicht genügend Resonanz erzeugt oder gefunden zu haben; auf das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden; und sogar gefasst zu sein auf das sonderbare Gefühl der Enttäuschung, dass man vom eigentlichen Ziel, vom Erreichen des Ziels, vom Augenblick des Triumphs gar nichts gehabt hat.
Aus: Kahn, Oliver: Ich. Erfolg kommt von innen. München, 2008